Es war ein verregneter Nachmittag. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf die Idee mit dem Museum gekommen war, aber irgendwie hatte ich plötzlich an etwas Interesse, das mich sonst nie gereizt hatte.
Der Winter hatte nun schon so lange um sich gegriffen, dass ich gar nicht mehr wusste, wie dieser Teil der Stadt aussah. Im Frühling und Sommer waren wir oft hier. Die Kinder liebten das großzügige Gelände der Orangerie. Wir nahmen uns dann immer eine Wolldecke und belegte Brote mit, während Anni und Michi mit ihrem zerrissenen Ball spielten. Jetzt war von der Idylle auf der Karlswiese nichts mehr zu sehen und ich zog meinen Mantel fester zu. Der Schnee hatte sich in glitschigen Matsch verwandelt, der sich mit dem Sand des Gehweges vermischte und unaufhaltsam in meine Schuhe drang.
Schon nach ein paar Minuten in der Karlsaue hatte ich das Gefühl, erfrieren zu müssen. Meine Füße waren zu Eisklumpen gefroren und meine Hände verbarg ich notdürftig in meinen Hosentaschen, auch wenn das nichts nützte. Schon lange hatte ich außerdem diesen Schwindel, der immer bei Kälte kam und mich fast außer Gefecht setzte. Ich beschloss, schneller zu gehen, um nicht auch noch von oben nass zu werden. Trotzdem kam ich völlig durchnässt im Foyer des Planetariums an, dessen Ausstellung ich besuchen wollte.
„Guten Tag, einmal bitte!“
„Wollen Sie auch ins Planetarium? Die nächste Vorstellung ist um vier.“
„Nee, danke, nicht unbedingt.“ Ohnehin war mir das Thema kein Herzenswunsch gewesen. Aus purer Höflichkeit hatte ich auch kein Interesse heucheln wollen, zumal die junge Frau mich mit einem gelangweilten Blick maß. Ihre Augen schienen mir vorwerfen zu wollen, was ich hier wollte, schließlich war ich seit sehr langer Zeit an diesem Tag bestimmt der einzige Besucher. Ich nahm meine Eintrittskarte entgegen und überlegte noch, ob ich meinen klitschnassen Mantel nicht vielleicht in einem der Schränke verstauen sollte.
Tatsächlich hatten alle Spinde noch den kleinen Schlüssel, mit dem das Eigentum der Besucher sicher verwahrt werden sollte. Ich ging zur Nummer eins und zog meinen Mantel aus. Unter mir bildete sich derweil eine große Pfütze. Auch aus meinen Schuhen lief das Wasser. Schuldbewusst strich ich sachte über den Marmorboden, um Schlimmeres zu verhindern, ehe ich meinen Mantel in den Spind stopfte.
Es war eine Atmosphäre der Bedrängnis. Als Kind im Sportunterricht hatte ich meine Sachen in so einen Schrank gelegt und wenn ich einen Fehler gemacht hatte, so war ich zurück in die Garderobe geschickt worden, in der eine gespenstische Stille geherrscht hatte. So wie jetzt. Noch einmal sah ich mich zu der Kartenverkäuferin um, die sich wieder dem PC-Bildschirm zu widmen schien und ging dann hoch in die erste Etage.
Der Boden veränderte sich hier vom schlichten Marmor zu herrschaftlichem Parkett. Ich blickte erneut auf meine Schuhe und hoffte, dass ich keine größeren Schäden hinterlassen würde. Selbst mochte ich es nicht, wenn mit nassen Schuhen in meiner Wohnung herumgestapft wurde. Anni und Michi taten das oft, aber erst wenn sie fort waren, begann ich mit meiner Reinemachaktion, damit sie sich nicht eingeschüchtert fühlten.
Der Raum war dunkel. Man hätte Kerzenschein vermuten können, aber die Lichtquellen waren einige spärliche Birnen, die die Exponate wenig, doch festlich illuminierten. Insgesamt war der Raum aber sehr groß und ich konnte meine Schritte auf dem Holzboden hören. Mit mir im Raum befand sich auch ein leises Ticken, vielleicht von einem der vielen Zeitmesser und außerdem eine Aufsichtsperson. Der Herr hatte es sich auf einem Klappstuhl bequem gemacht und musste wohl geschlafen haben, ehe ich kam. Mit meinem Eintritt hatte er begonnen, sich zu räuspern und seinen Kopf zu heben.
Gut zu erkennen waren die vielen Globen. Der erste, der mir auffiel, hatte eher etwas von einem Trödelstück. Die kleine Karte vor dem Glaskasten zeigte an, dass die Weltkugel aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte. Ich war geneigt, einen Pfiff zwischen meinen Zähnen hervor zu bringen, riss mich dann aber doch zusammen. Der Aufseher sollte keinen falschen Eindruck von mir bekommen.
Ich ging weiter, betrachtete Teleskope und Maschinen für Sternkundler. Im Geiste stellte ich mir vor, wie Wissenschaftler früher die Geräte über das Feld geschleppt haben und wie viele Helfer sie dafür benötigten. Das, was hier gezeigt wurde, konnte man heute wohl nicht mehr als Wissenschaft bezeichnen. Trotzdem war mir bewusst, dass diese sonderbaren Geräte ihre Vorläufer gewesen sind. Alle Ausstellungsstücke waren sorgfältig geschützt. Die meisten befanden sich hinter Glas oder hatten warnende Schilder mit „Bitte nicht berühren!“, an die ich mich natürlich hielt.
Nun, bis hierher war es kein besonderer Besuch. Ich war einer von nicht ganz so vielen Gästen und um ehrlich zu sein war ich froh, dass die Räumlichkeiten beheizt waren. Soweit sind doch sicher ganz normale Verhaltensweisen erkennbar. Ich informierte mich über die Globen und ging dann weiter zu den Teleskopen. Ein besonders großes hatte eine Kunststoffummantelung, die einlud, durch das Objektiv zu schauen. Ich beugte mich etwas herunter, konnte aber kein Bild ausmachen. Auch beim Schließen des anderen Auges sah ich noch nichts durch das Fernrohr. Eine leichte Enttäuschung überkam mich. Ich versuchte, Blickkontakt zu dem Aufseher aufzunehmen, aber der hatte sich mittlerweile in die Reinigung seiner Fingernägel vertieft und so machte ich mich auf zur nächsten Vitrine.
„Dubium sapientiae initium.“ War die kleine Gravur, die ich auf einer der Uhren lesen konnte. Mit dem Lesen der lateinischen Worte hatte ich nie Probleme gehabt. Die Übersetzung war aber einfach zu lange her. Der Satz stammte wohl von René Descartes. Alte Philosophie.
Die Uhr war in einer kleinen Schatulle verborgen, die wie ein Schuckkästchen anmutete. Sie war reich verziert und auch die Gravur war mit goldenen Lettern geprägt, sodass sich aus dem Schatten dieser Satz ergab. Im Kopf versuchte ich, die Wörter zu drehen, ihnen einen Sinn zu geben, aber außer dem Wort „Wissen“ und „Anfang“ konnte ich nichts erschließen.
Die Karte erklärte, dass es sich um eine Tischuhr aus dem siebzehnten Jahrhundert handelte. Die Zeiger standen still und ich fragte mich, ob die Uhr wohl noch intakt war. Sollte man immer so pfleglich mit ihr umgegangen sein, so war davon auszugehen. Ältere Uhrwerke brauchten ja keine Batterien. Anni hatte früher eine Uhr mitgebracht, die sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Ziemlich viel Zeit haben wir mit diesem Ding verbracht, ehe wir feststellten, dass sie wirklich kaputt war. Rein äußerlich war sie ein schönes Stück gewesen und Anni hatte ein Talent für schöne Dinge zum Leidwesen ihrer Mutter, bei der sie sich die Schätze erbettelte. Am Wochenende zeigte sie mir immer ihre Errungenschaften.
Ich hätte mich damals sehr gewundert, wenn das Ding funktioniert hätte. Sicher war es aus der letzten Jahrhundertwende, war ziemlich aufwendig hergestellt worden und das Innenleben hatte ausgesehen wie eine kleine Fabrik. Trotzdem hatte Anni sich nicht beirren lassen.
Im Geiste zuckte ich mit den Schultern und las erneut den Text, der auf der Karte zu lesen stand. Als ich versuchte, mich auf den Text zu konzentrieren, verwischten die Buchstaben für einen kurzen Moment vor meinen Augen. Es war wirklich stickig in diesem Raum und das Dämmerlicht trug nicht gerade zu einer guten Sicht bei. Trotzdem konnte ich erschließen, was noch auf dem Kärtchen zu lesen war. Die Uhr war für einen Landgrafen angefertigt worden.
Ich beschloss, den Raum zu verlassen und langsam, aber zielstrebig in den nächsten einzutreten. Ob es dort einen neuen Aufseher gab oder ob mir der alte langsam und diskret folgte? Hier waren doch sicher überall Kameras und Alarmanlagen. Den alten Plunder würde man doch nicht allein von einem staubigen Herrn betreuen lassen, der die meiste Zeit schlief?
Der Weg zum nächsten Raum führte über eine kleine Galerie, auf der sich einige weitere Teleskope befanden. Weil der Korridor hier kühler war und das kleine runde Fenster etwas Licht spendete, blieb ich einen Moment stehen. Es musste ein mittleres, zierendes Fenster sein, das mit seinen kunstvollen Sprossen einen Blick in den Park warf. Man konnte von hier aus die Achsen sehen, so wie man den Park angelegt hatte. Von hier aus wirkte der Schnee idyllisch. Aus weiter Entfernung konnte man den Matsch von eben nicht erkennen. Alles war noch weiß. Der Regen sorgte aber sicher schon bald dafür, dass der Schnee verschwunden war.
Ein Resultat des Wetters war auch, dass der Park sehr verlassen war. Im Sommer konnte man durch dieses Fenster sicher auf viele Menschen schauen, die nach den Sonnenstrahlen heischten. Jetzt war wirklich nichts los. Ich ging etwas näher an das Geländer, um mich zu vergewissern, dass ich im ganzen Park neben der Verkäuferin unten und dem schlafenden Aufseher der Einzige war, der sich auf diesem Flecken Erde aufhielt.
Vorsichtig beugte ich mich nach unten und kniff mein rechtes Auge zu. Das große Teleskop wies direkt auf die Mitte, auf die Schwaneninsel. Sehr gut konnte ich den kleinen weißen Pavillon erkennen, die leuchtenden Fensterscheiben und eine Ente, die gelangweilt vorüberschwamm.
Wahrscheinlich hätte ich mich anders verhalten sollen, aber damals dachte ich, dass mir mein Schwindel einen Streich gespielt hatte. Dass mich meine Augen nicht getrügt hatten, fiel mir erst auf, als die Polizei am nächsten Morgen vor meiner Tür gestanden hatte. Ich hatte nicht glauben können, was sie sagten, aber das Teleskop geht mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf.
„Guten Tag, Herr Witten?“
„Ja, was gibt’s denn?“ Ich hatte gewusst, was passiert war, aber es war zu schwer gewesen, die Bilder in Worte zu legen.
„Ihre Tochter ist seit gestern verschwunden.“
„Mhm.“ Ich hatte nach unten auf die Türschwelle geblickt und mich erinnert:
Das Teleskop war für sein stattliches Alter erstaunlich scharf und deutlich gewesen. Langsam bewegte ich es hin und her, drehte an dem Objektiv und sah jetzt noch besser. Die Szene im Teleskop wirkte zwar grau und verlassen, aber sie hatte etwas Gemütliches, sodass ich mich kaum davon losreißen konnte. So hatte ich sicher schon einige Minuten den Pavillon fixiert, als plötzlich etwas Unglaubliches geschah.
Von rechts kam eine kleine Person in das Bild gelaufen. Es ließ sich nicht ausmachen, wie sie auf die Insel gekommen war, die nur so groß war, dass sie das Haus des Pavillons beherbergen konnte. Es gab keinen Steg zum Ufer und das Wasser musste ziemlich tief sein. Ich sah kein Boot, wohl aber den roten Mantel, den das Mädchen trug und dessen Bewegungen. Ich musste das Gesicht nicht erkennen, um zu wissen, dass es Anni war, die offensichtlich vergnügt um das kleine Haus tanzte, hin und herlief und schließlich zum Himmel blickte.
Als Kind freut man sich über Regen. Ich konnte nicht mehr sagen, wann die Freude über das Regenwetter bei mir aufgehört hatte, aber ich hasste den Regen und Anni schien nun den Himmel zu fragen, ob er nicht noch mehr Tropfen zu bieten hatte. Ich konnte sie gut sehen, ihre Gummistiefel, die schon wieder schmutzig waren und sogar den Rucksack, den sie bei Ausflügen immer bei sich trug. Vom Himmel sah sie nun geradeaus und direkt in meine Richtung. Hätte ich nicht gewusst, dass ich durch ein Fernrohr blickte, hätte ich ihr bestimmt gewunken.
Für einen Moment war ihr Gesicht ernst, verheißungsvoll, nahezu prophetisch, aber dann hob sie ihre Arme und ruderte wild. Ihre Augen strahlten und ich musste lächeln, weil sie sich mit dem Winken so anstrengte und ich sie doch sehen konnte. Zaghaft hob ich meinen Arm und winkte zurück. Wie konnte sie mich aus dieser Entfernung erkennen? Zwischen uns lag sicher mehr als ein Kilometer, zumal ich durch ein kleines Fenster blickte und von außen direkt vor dem Gebäude nicht erkennbar sein konnte. Ich lachte jetzt lauter, drehte das Teleskop von meinen Augen weg und fuhr mit beiden Händen durch mein Gesicht.
„Sie hat einen roten Mantel getragen und ihre Gummistiefel.“
„Ja, Ihre Frau – äh, Exfrau sagte das bereits.“ Die beiden Polizisten sahen sich an. Sie überlegten wohl, wie mit mir zu verfahren war. Unterdessen dachte ich weiter an das, was passiert war:
Ich hatte tief durchgeatmet und mir mit den Fingern den Schlaf aus den Augen gerieben. Seit Monaten hatte ich diesen Schwindel nun schon. Vielleicht sollte ich zum Arzt gehen.
Es war dann ganz schnell gegangen. Der erneute Blick durch das Teleskop zeigte nicht mehr nur meine Tochter, sondern von irgendwoher musste eine zweite Person gekommen sein. Sie war mir fremd, aber so, wie sie sich Anni zuwandte, schienen sich die beiden zu kennen. Komisch, sonst hatte mir Sabine immer ihre Freundinnen vorgestellt. So lange waren wir doch noch nicht getrennt, dass ich diese Frau nicht kennen konnte.
Sie gingen zusammen vielleicht drei mal um den Pavillon, bis das geschah, was ich bis heute nicht verstehe. Es war zu unwirklich und auch wenn man einer fremden Frau sein Kind nicht anvertrauen sollte, so war doch das, was ich von ihr in dieser Position sehen konnte, durchaus sympathisch, wenn nicht sogar nett. Anni hatte sich nun kurz an das Ufer gebeugt, hatte wohl ihre Hände kurz waschen wollen, als die Frau meine Tochter mit einem gezielten Hieb ins Wasser stieß. Die Frau sah sich um, ließ das Kind im Wasser zappeln und ging dann fort.
„Anni“ kam ich nun hinter dem Teleskop hervor und wollte das echte Bild durch das Fenster betrachten. Ich konnte aber nichts sehen außer einem weißen Punkt in der Ferne, der wohl der Pavillon sein musste. Sie konnte doch nicht schwimmen. Mein Körper geriet in Aufruhr. Ich fühlte, wie meine Glieder sich bewegen wollten, aber keine Richtung entschieden. Deshalb blieb ich schließlich stehen und sah erneut durch das Fernrohr. „Anni“ rief ich wieder. „Anni!“ Als ich jetzt die Schwaneninsel anpeilte, war sie leer. Keine Person war mehr zu sehen.
Sie wirkte sogar noch verlassener als vorhin. Ein Kind ging doch nicht sofort unter! Man wusste doch aus Filmen, dass es einen Moment dauerte, bis die sicherer Rettung nahte. Die Stelle, an der Anni in das Wasser eingetaucht war, war aber völlig ruhig. Die nahezu glatte Wasseroberfläche wies nicht darauf hin, dass ein Kind dort um sein Leben rang und die fremde Frau war ebenfalls verschwunden.
Noch einige Minuten hatte ich durch das Teleskop geblickt, ehe ich mich von der grausamen Szene losreißen konnte. Bestimmt hatte ich mich geirrt. Wie sollte mein Kind auf diese kleine Insel gekommen sein? Noch dazu völlig allein und bei diesem Wetter. Sabine kümmerte sich immer gut um die Kinder und würde sie nicht allein losgehen lassen.
Dies alles ging mir auch dann noch durch den Kopf, als ich auf meiner Türschwelle die beiden Kommissare fixierte. Es konnte nicht wahr sein. In den dunklen Augen des einen Polizisten las ich noch einmal das, was mir beim Ende meiner Museumstour eingefallen war:
„Zweifel ist der Weisheit Anfang“ war die Übersetzung der Inschrift, die der Künstler der kleinen Tischuhr in lateinischer Sprache in den Deckel graviert hatte.
„Suchen Sie bei der Schwaneninsel in der Karlsaue“ sagte ich zu den Beamten, ehe ich auf der Türschwelle zusammenbrach.